Dass die Fertigstellung von Konrad auf 2027 verschoben wurde, gilt manchem als Menetekel, dabei sind nun erstmals viele Ungewissheiten der Vergangenheit beseitigt. Bericht aus einer Sphäre, in der die Uhren anders gehen, aber jüngst auch ein wichtiger Durchbruch gelungen ist – unter Tage wie auch über Tage.
Mehr als einen Kilometer unter der Erde legt ein Jeep eine plötzliche Bremsung hin und kommt inmitten der Dunkelheit zum Stehen. Von Ferne ist ein Brummen zu hören, das zu einem Dröhnen wird und sich bald zu einem Brüllen steigert. Dann wird die Finsternis von einem Lichtschein durchschnitten. Aus einem tief abfallenden Seitentunnel nähern sich zwei leuchtende Punkte, die immer heller werden, ganz so, als krieche aus den Tiefen der Erde ein lärmendes Ungeheuer hervor. Das ist es auch: ein lärmendes Ungeheuer von einem Bagger.
Da wird mit Jeeps durch ein Labyrinth von Tunneln gefahren, da öffnen und schließen sich automatische Schleusentore, da tun sich nach längeren Fahrten durchs Dunkel immer wieder neue Räume und Hallen auf. Ständig dröhnen Sirenen, rotieren gigantische Ventilatoren. Alles sehr unwirklich, doch dass das hier die Realität unter Tage ist, wird spätestens dann klar, als sich die Fahrer zweier Fahrzeuge bei einer zufälligen Begegnung ein fröhliches „Glück auf!“ zurufen. Etwa 1.000 Bergleute, Geologen und andere Experten arbeiten hier unter und über Tage. Es geht um eine Herausforderung technischer und wissenschaftlicher Art: Das ehemalige Bergwerk Schacht Konrad bei Salzgitter-Bleckenstedt wird zu einem Endlager umgebaut, um in Zukunft schwach Wärme entwickelnden Atommüll aufzunehmen – und das für Jahrtausende.
Einen Geschmack von Ewigkeit haben auch die Zeitspannen, in denen sich die Dinge bisher entwickelt haben – beziehungsweise oft eben auch stillstanden. Nachdem die Eisenerzförderung im Bergwerk Konrad aus wirtschaftlichen Gründen Anfang der 1970er-Jahre eingestellt worden war, fasste der Bund 1977 den Plan, bis Ende der 1980er-Jahre in dem Bergwerk ein Endlager für 90 Prozent des deutschen Atommülls zu errichten. Es sollte die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle aufnehmen, die zwar viel Masse, aber vergleichsweise wenig Radioaktivität haben: keine Castoren mit Brennelementen, sondern Rückbauabfälle abgerissener Atomkraftwerke, verstrahlte Werkzeuge, Forschungsmüll. Dass es dann noch bis 1991 dauerte, bis die Pläne für den Bau öffentlich ausgelegt werden konnten, hatte nicht zuletzt mit dem aufkeimenden Widerstand der Konrad-Gegner zu tun. 290.000 Einwendungen gab es – doch im Jahr 2002 erteilte das niedersächsische Umweltministerium die Genehmigung. Diesmal wehrten sich Bürger, Kommunen, Landkreise und Kirchen vor Gericht. Doch 2007 waren die letzten Klagen vor dem Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Seither gibt es in Deutschland ein genehmigtes Endlager, und der Weg zu dessen Errichtung ist frei. In der Theorie.
Wie die Energieversorger die Zuständigkeit für den Bau abgeben mussten
In der Praxis waren die Verzögerungen längst nicht überwunden: 2007 hieß es, 2013 werde eröffnet. 2009 hieß es, 2014 werde eröffnet, 2010 hieß es, 2019 werde eröffnet. Und 2013 wurde abermals auf 2022 verschoben. Die Gründe waren 2009 ein aufgehobenes Vergabeverfahren, 2010 eine Neuabschätzung der Standardzeiten für Arbeitsabläufe und eine realistischere zeitliche Planung von Prüf-, Zustimmungs- und Vergabeverfahren. Und 2013 stellte sich heraus, dass der Umbau von Schacht 1 umfangreicher ausfallen würde als geplant.
Die neuerliche Verschiebung der Fertigstellung lag auch an den beteiligten Behörden und Organisationen selbst. Die größten Probleme entstanden nicht unter der Erde, sondern vor allem im Verhältnis der handelnden Akteure über Tage. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hatte die Bauherrenfunktion, die Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe (DBE), eine mittelbare Tochter der Energiekonzerne, war mit dem Bau beauftragt. Geregelt war dieses Verhältnis durch einen Kooperationsvertrag, der nahezu unkündbar war und den Beteiligten erschwerte, mit den konkreten Arbeiten voranzukommen. Auf beiden Seiten fehlten Informationen aus der jeweils anderen Institution, manche Probleme im Bauverlauf ließen sich in dieser Konstellation gar nicht mehr lösen. Dazu kamen Faktoren wie das kerntechnische Regelwerk oder andere Veränderungen in den Normen, die im laufenden Ausbau auf den jeweils aktuellsten Stand gebracht werden müssen.
Ein strukturelles Defizit, das nur zu lösen war, indem die Zuständigkeiten beim Thema Atommüll-Endlagerung gesetzlich ganz neu geregelt wurden. Dies hat die ehemalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks mit dem Gesetz zur Neuordnung der Organisationsstruktur im Bereich der Endlagerung im Sommer 2016 getan. Seither liegen die operativen Endlageraufgaben in nur noch einer Hand – bei der neu gegründeten Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE). Nun wurde es erstmals möglich, alle existierenden Akten und Erkenntnisse über das Endlagerprojekt auf einen Tisch zu legen. Die Voraussetzung, um sich ein ganzheitliches Bild über die konkrete Terminlage zu machen und endlich zu einer verlässlichen Vorhersage zu kommen, wann es hier denn nun wirklich mal losgehen kann. Um dabei Betriebsblindheit aus zuschließen, hat man sich externe Hilfe durch den TÜV Rheinland geholt, dessen Gutachten seit Anfang März vorliegt: Demnach sollen nun im Jahr 2027 die letzten Bauarbeiten abgeschlossen sein.
Eine Unzahl von Einzelpositionen hat der TÜV geprüft und geschaut, wo es an Effizienz mangelt, sich Prozesse verlängern und wo an anderen Stellen Zeit gespart werden kann. Eine realistische Einschätzung der Dauer atomrechtlicher Prüfungen und davon, wie man mit einem besseren Projektmanagement auf Probleme reagieren kann, gibt es nun. „Nach Lage der Dinge ist nicht er kennbar, dass es noch doller kommen kann“, sagte Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth bei der Vorstellung des TÜV-Berichts in Berlin, und BGE-Geschäftsführer Thomas Lautsch fügte an: „Die Baustelle hat Schwung.“
Im Berg wird auf drei Großbaustellen gleichzeitig gearbeitet
Tatsächlich wird unter Tage in vier Schichten gearbeitet. Von Schacht 1 aus, über den alle Personen, Gerätschaften und Verbrauchsmaterialen auf die Großbaustelle in etwa einem Kilometer Tiefe gelangen, sind es nur ein paar Minuten Fahrt mit dem Besucherjeep. In einer Ausbuchtung des Stollens erscheint im Lichtkegel eines Bauscheinwerfers mit Donnergetöse ein Großgerät, das sich mit einem brachialen Schneidekopf in den Berg hineinfräst. Ein Waschplatz für Fahrzeuge soll das einmal werden, erklärt Infostellenleiter Arthur Junkert und wiegelt ab: Das sei jetzt keins der wirklich wichtigen Projekte. „Wir haben hier unten zurzeit drei große Baustellen, auf denen es erhebliche Fortschritte gegeben hat“, fasst er die Lage unter Tage zusammen und gibt damit auch das Programm der weiteren Besichtigungstour bekannt: Erstmal geht es in die unterirdische Betonfabrik, in der später unter Tage das Material zur Verfüllung der Einlagerungskammern hergestellt werden soll. Dann weiter in die Montagehallen, in denen dereinst der Fuhrpark aus dem Einlagerungsbereich gewartet werden soll. Und schließlich in die Umladestation in der Nähe von Schacht 2, wo die Abfallgebinde auf Spezialfahrzeuge umgelagert werden sollen, um sie in die Einlagerungskammern zu transportieren. Diese sind für den Betriebsbeginn schon komplett „aufgefahren“, wie der Bergmann sagt. Zusammen ergibt all dies ein unterirdisches Industriegebiet mit weit mehr als 30 Kilometern Wegstrecke, durchzogen von Wasserleitungen, Luftkanälen, Kabeln und Entstaubungsanlagen. Wie ein Aufruf zur Arbeit lagern Unmengen Maschendraht, Spritzbetonsäcke und Betonmischer an den Wegesrändern. Doch pausenlos malochen, das schafft hier unten keiner. Zwischendurch gibt es im Stollen auch mal Stullen und Kaffee. Dafür steht ein neonbeleuchteter Pausencontainer bereit.
Kurzer Zwischenstopp neben einem Bagger, auf dem ein Schlagbohrer im Format eines Kanonenrohrs installiert ist. Er hämmert wie wild auf den Berg ein, um eine Verbindung zur unteren Ebene herzustellen, damit von hier oben später mal über eine Fallleitung Eisenerz als Rohstoff ins Betonwerk gekippt werden kann. Dann: Motoren aus, das obligatorische „Glück auf!“, Gehörschutz kurz ablegen und ein kurzes Schwätzchen mit dem Baggerfahrer, der von den neuesten Durchbrüchen berichtet. Junkert lobt, der Bergmann reißt noch einen Witz, und weiter geht’s.
Der Umgangston unter Tage ist, wie sollte es unter Kumpeln auch anders sein, kumpelhaft, und ihr traditioneller Stolz ist in Konrad sogar noch eine Nummer größer. Denn eine Nummer größer ist hier eben auch ihre Aufgabe. „Bauen in der Substanz ist schon eine erhebliche Herausforderung“, erklärt Junkert. Damit ist gemeint, dass die Versorgungseinrichtungen in Stollen gebaut werden, die nicht in einem eigens dafür angelegten Bergwerk entstehen, sondern in einem unterirdischen Grubengebäude errichtet werden, das einmal ganz anderen Zwecken diente. „Das ist so, als wenn Sie ein Einfamilienhaus kaufen, anstatt neu zu bauen. Da müssen Sie auch Zugeständnisse machen – oder eben mit erheblichem Aufwand umbauen.“ Die Einlagerungstransportstrecken und die Einlagerungskammern selbst dagegen werden ganz neu aufgefahren. Bei der Sicherheit gibt es keine Zugeständnisse. Für die Konrad-Kumpel bedeutet das Pionierarbeit: Zum Beispiel müssen sie Kammern ausheben, die um ein Vielfaches höher sind als in einem Förderbergwerk üblich. Dann müssen sie diese Hallen durch Betonverschalungen und riesig dimensionierte Gebirgsanker absichern, die statt zwei Metern 12 bis 18 Meter Länge haben. So viel Stahl muss man erst mal in den Fels schrauben können.
Die Gegner sehen Parallelen zwischen Konrad und der Asse
Bei den Bürgerinitiativen, die seit nunmehr drei Jahrzehnten alles daransetzen, um ein Endlager Konrad zu verhindern, weckt der Umbau eines bestehenden Bergwerks düstere Assoziationen. Wohin so eine Umnutzung eines ehemaligen Förderbergwerks führen könne, dafür haben die Konrad-Gegner ein mahnendes Beispiel zur Hand: den nahe gelegenen Salzstock Asse bei Wolfenbüttel, jenes missglückte Endlager, aus dem wegen eines drohenden Wassereinbruchs 126.000 Fässer mit Atommüll wieder geborgen werden sollen. Spricht man Junkert auf dieses Thema an, stampft er erst mal mit dem Sicherheitsstiefel auf den Boden. Eine Staubwolke steigt auf. Ein Wasserproblem gebe es hier definitiv nicht, im Gegenteil, man müsse sogar regelmäßig mit Sprenklern bewässern, um den Staub zu bekämpfen. Es ist aktenkundig: War die Asse tatsächlich zu nah am Wasser gebaut, ist das Bergwerk Konrad durch eine massive Tonschicht sicher von der Biosphäre abgeschirmt.
Aber ebenso wie in der Asse ist die Zeit ein Problem im Endlager Konrad. Vier Monate dauert es, eine große Teilschnittmaschine in Einzelteilen in die Tiefe zu verfrachten und sie unten wieder zusammenzusetzen. Ist sie dort dann im Einsatz, kommt sie beim Auffahren neuer Stollen gerade mal ein paar Meter am Tag voran – einige der Einlagerungskammern, in denen später die Behälter mit dem Atommüll einbetoniert werden, sind bis zu einen Kilometer lang. Das hier sind geologische Schichten, die im Verlauf von Äonen entstanden sind. Wollen Menschen in diese Sphäre vordringen, müssen sie auch etwas mehr Zeit mitbringen.
Wie am Ende bei der Einlagerung Zeit gespart werden könnte
Das bürokratische Problemknäuel ist inzwischen entwirrt. Aber gelöst werden muss noch einiges: Am für die Einlagerung der radioaktiven Abfälle entscheidenden Schacht 2 hat es lange Stillstände gegeben. Einige Arbeiten in diesem Bereich müssen nun neu ausgeschrieben werden. Das wird wieder Zeit in Anspruch nehmen. Schließlich sind es keine trivialen Arbeiten, wie sich beim Umbau des benachbarten Schachts 1 gezeigt hat. Um solche Fragen geht es, wenn der TÜV in seinem Gutachten von „Problemen und Ungewissheiten“ spricht.
Auch an manchen Akten hat der Zahn der Zeit genagt. Einige Teilprojekte wurden immerhin schon Ende der 1980er-Jahre an externe Firmen vergeben, ein gutes Vierteljahrhundert später gibt es da einigen Klärungsbedarf: Welcher Leistungsumfang in welcher Qualität soll bei solchen Altverträgen heute noch gelten? Das ist nicht ohne, denn praktisch für nichts, was es hier zu bauen und entwickeln gilt, existieren Standards. Alles sind Spezialfälle, sehr komplexe dazu – wobei sich derweil das Regelwerk weiterentwickelt hat, das trotzdem eingehalten werden muss. Deshalb empfiehlt der TÜV Rheinland, manche der Altverträge neu zu regeln und einige Teilprojekte auch gleich ganz neu auszuschreiben. Allein: Die Lage auf diesem Markt als angespannt zu bezeichnen wäre noch untertrieben. Leisten können so etwas meist nur hoch spezialisierte Anbieter, nicht selten Monopolisten, die sich in den Verhandlungen gern hartleibig zeigen – und am Ende manchmal auch ganz abspringen. Für den Ausbau des Schachtes 2 lag gar nicht erst ein vertretbares Angebot vor. Deswegen musste im Jahr 2009 verschoben werden.
Die fünf Jahre, die das alles jetzt länger dauern soll, ließen sich zumindest teilweise dadurch kompensieren, dass später bei der Einlagerung der Abfälle auch im Zweischichtbetrieb gearbeitet werden könnte, sagten BGE-Chefin Ursula Heinen-Esser und Staatssekretär Jochen Flasbarth nach Erscheinen des TÜV-Gutachtens. Bislang ging man davon aus, dass mit einer Schicht 10.000 Kubikmeter Atommüll pro Jahr eingelagert werden können, bei zwei Schichten wird sich das Volumen zwar nicht verdoppeln, aber deutlich erhöhen. Wie viel teurer das Endlager durch die Verzögerung wird, lässt sich derzeit noch nicht genau beziffern. „Es wird bezogen auf die Gesamtkosten keine allzu große Summe sein“, erwartet Heinen-Esser, eingeplant sind 3,6 Milliarden Euro, von denen 1,4 Milliarden bereits verbaut sind.
Am Ende der Reise in die Tiefe geht es mit vier Metern pro Sekunde im nur von Gittern umschlossenen Förderkorb rund 1.000 Meter nach oben, während der Luftstrom den Mitfahrenden von oben entgegenweht. Er wird durch Schacht 1 angesaugt, um das Bergwerk zu bewettern. Eine solche Dynamik hätte sich manch einer in den letzten Jahren auch bei der Klärung des Endlagerprojekts Konrad gewünscht. Immerhin hat es nun wieder Fahrt aufgenommen.